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Nachricht über Tamiflu aus der Praxis für Gesundheit und Lebensfreude

Zweifel an Tamiflu

Druck auf Roche nimmt zu

Wissenschaftler wollen die Wirksamkeit von Tamiflu überprüfen, doch Roche hält entsprechende Studien unter Verschluss. Nun haben die Kritiker einen entlarvenden Briefwechsel ins Internet gestellt.

Das hat es noch nie gegeben: Das «British Medical Journal» (BMJ) hat den jahrelangen Briefverkehr, den das Fachblatt und Forscher der renommierten Cochrane Collaboration mit dem Pharmakonzern Roche,der WHO und anderen Behörden geführt haben,vollständig als Faksimile ins Internet gestellt. Die Dokumentation «liest sich wie eine Anleitung zum Verschleiern, Tricksen und Täuschen», schreibt die «Süddeutsche Zeitung».

Der Originaltext des Tagesanzeigers im Zitat:

Gesundheitsbehörden rund um den Globus kauften für Milliarden Steuergelder Tamiflu ein, um im Falle einer Pandemie ihre Bevölkerung damit versorgen zu können. Die Verantwortlichen hatten dabei die Beweise für den angeblich grossen Nutzen von Tamiflu und die angeblich geringen Nebenwirkungen nicht selber gesichtet, sondern sich mit unvollständigen Unterlagen des Pharmakonzerns begnügt. Das geht aus der detaillierten Dokumentation hervor, die das BMJ ins Internet gestellt hat.

Als die Schweinegrippe-Pandemie die Bevölkerung 2009 verunsicherte, hatten die WHO und eine US-Behörde Tamiflu als Mittel der Wahl empfohlen. Schon damals bezweifelten unabhängige Forscher der Cochrane Collaboration, dass dieses Grippemittel mehr als eine bescheidene Wirksamkeit hat. Als einzigen dokumentierten Nutzen anerkannten sie, dass die Influenzainfektion im Durchschnitt 21 Stunden weniger lang dauert, sofern man Tamiflu sofort nach Auftreten der ersten Symptome einnimmt. Die Cochrane-Forscher verlangten von Roche die vollständigen Studien, die beweisen, dass das Grippemittel von grösserem Nutzen ist und keine schweren Nebenwirkungen hat. Doch bis heute behält Roche die wichtigsten Unterlagen unter Verschluss.

Wiederholte Anfragen beantwortete Roche mit Ausreden wie «Wir sind gerade selbst mit der Auswertung beschäftigt» oder «Sie haben doch schon etwas bekommen» oder «Wir sorgen uns um den Datenschutz»: alles nachzulesen in der Korrespondenz mit Roche, der WHO, der US-Behörde FDA sowie der EU-Medikamentenbehörde EMA im Internet. Nach Durchsicht der ganzen Korrespondenz musste Cochrane-Forscher Peter Doshi feststellen: «Die US-Behörden und die WHO haben Roche nicht einmal nach allen Studienunterlagen gefragt.»

Dies hat auch Swissmedic nicht getan. Die Schweizer Aufsichtsbehörde hatte auf Anfrage im Dezember 2009 erklärt, sie verfüge über «alle Unterlagen», namentlich auch über die Roche-Studien, die den behaupteten Nutzen bei Lungenentzündungen betreffen. Swissmedic behauptete also, Nutzen und Risiken von Tamiflu besser überprüft zu haben als die FDA und andere Bewilligungsbehörden. Doch heute krebst Swissmedic zurück und räumt ein, dass «tatsächlich der irreführende Eindruck entstehen konnte, Swissmedic verfüge – im Gegensatz zur Cochrane-Gruppe – über alle erwähnten Studien».

 

Zeitgewinn lohnt sich

Weil Roche den Nachweis des behaupteten Nutzens nicht erbringen konnte, hat die US-Aufsichtsbehörde FDA dem Schweizer Konzern schon vor mehr als zehn Jahren verboten, weiterhin zu behaupten, dass Tamiflu bei Grippe die Ansteckungsgefahr verringere, das Risiko von Komplikationen senke und zu weniger Spitaleinweisungen führe. Trotzdem macht Roche ausserhalb der USA mit diesen Argumenten weiterhin für Tamiflu Werbung. Der Konzern halte sich an das, was die Behörden der jeweiligen Länder erlauben, erklärt Roche-Sprecher Daniel Grotzky.

Das Cochrane-Zentrum sei selber schuld, dass es die gewünschten Daten nicht erhalte, meint Roche. Denn die Cochrane-Forscher hätten sich geweigert, eine «Vertraulichkeitserklärung» zu unterzeichnen. Den Wortlaut der verlangten Erklärung wollte Roche auf Anfrage jedoch nicht bekannt geben. Doch sie ist jetzt im Internet veröffentlicht: Es geht nicht um Patientendaten, wie Roche suggeriert, sondern eher um einen Maulkorb. Die Cochrane-Forscher hätten nicht einmal bekannt machen dürfen, dass eine solche Vertraulichkeitserklärung existiert, auch nicht informieren über die blosse «Tatsache, dass Verhandlungen stattfinden», und schon gar nicht über «den Inhalt der Verhandlungen», sofern Roche nicht ausdrücklich damit einverstanden ist.

Mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte von Patienten hat die Erklärung wenig zu tun, denn Cochrane verlangte nur Studien mit anonymisierten Daten, wie Peter Doshi von Cochrane versichert. Hans-Georg Eichler von der Europäischen Medikamenten-Zulassungsstelle EMA erklärt in Übereinstimmung mit Peter Doshi: «Klinische Studien dürfen nicht als Geschäftsgeheimnis behandelt werden.» Die Studien müssen nach internationalen Standards erfolgen und wissenschaftlich reproduzierbar und kontrollierbar sein.

Vor sieben Jahren hatte Professor Gianfranco Domenighetti, der damals im Tessiner Gesundheitsdepartement arbeitete, Tamiflu als «politisches Medikament» eingestuft. Der Zeitgewinn hat sich für den Pharmakonzern gelohnt. Mit dem Grippemittel Tamiflu hat Roche bis heute einen weltweiten Umsatz von über sieben Milliarden Dollar erzielt. Nach Angaben von Roche haben mehr als 90 Millionen Menschen Tamiflu geschluckt.

 

«Was hat Roche zu verstecken?»

Es geht nicht nur um viel Geld, sondern auch um die Gesundheit von Millionen Menschen. Denn die Risiken von Tamiflu könnten grösser sein als dessen bescheidener Nutzen. Die Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic schreibt in ihrer Fachinformation: «Bei der Verabreichung von Tamiflu zur Therapie der Influenza wurden insbesondere bei Kindern und Jugendlichen neuropsychiatrische Störungen wie Konvulsionen und Delirium beobachtet. In seltenen Fällen führten diese Störungen zu ungewollten Verletzungen, in sehr seltenen Fällen mit tödlichem Ausgang … Es liegen keine Daten hinsichtlich Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Tamiflu bei Patienten vor, deren schlechter oder instabiler Gesundheitszustand eine Krankenhauseinweisung erforderlich machen könnte.»

Ob die Risiken von Tamiflu grösser sind als dessen Nutzen, können unabhängige Forscher wie die des Chochrane-Zentrums nach wie vor nicht überprüfen. Jetzt hat die britische Medizinzeitschrift BMJ eine «Open Data Campaign» für mehr Transparenz mit Studiendaten gestartet. In einem offenen Brief an Roche, in dem das BMJ einmal mehr kritisiert, dass die wichtigsten Daten zum Bestsellermedikament noch immer fehlen, fragt Chefredaktorin Fiona Godlee rhetorisch: «Was hat Roche zu verstecken?»“